Die Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Bergischen Universität Wuppertal, die Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie an der Philipps-Universität Marburg und der Verein Mehr Demokratie legen hiermit einen zweiten bundesweiten Bürgerbegehrensbericht für Deutschland in den Jahren 1956 bis 2011 vor. Der erste Bericht über Bürgerbegehren und Bürgerentscheide vom Frühjahr 2008 (mit Datengrundlage bis Ende 2007) hatte reges öffentliches Interesse gefunden. Seitdem haben vielfältige Entwicklungen stattgefunden, die unser neuer Bericht näher beleuchtet.
Die öffentliche Diskussion über Bürgerbeteiligung im umfassenden Sinne nahm in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung. Vor allem der Konflikt um „Stuttgart 21“ hat weit über das Land Baden-Württemberg hinaus die Notwendigkeit und auch die Bereitschaft aufgezeigt, den Wunsch der Bürgerinnen und Bürgern nach mehr direkter Beteiligung an politischen Entscheidungen auf allen politischen Ebenen viel ernster zu nehmen als zuvor. Partizipation als ein Grundprinzip unserer Demokratie umfasst ein breites Spektrum von Formen und Verfahren, die die repräsentative Demokratie ergänzen, von Protest, Bürgerinitiativen, Bürgerforen, Mediation, Gerichtsverfahren usw. bis hin zu förmlichen Entscheidungsprozessen direkter Demokratie in Volksentscheiden oder Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene. Dieses Gesamtklima einer „Demokratisierung der Demokratie“ hat auch die Entwicklungen der kommunalen Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, die im Mittelpunkt dieses Berichtes stehen, positiv beeinflusst.
Jahrzehntelang war Baden-Württemberg das einzige Bundesland, das Bürgerbegehren und Bürgerentscheide kannte. Ab 1990 führten fast alle deutschen Bundesländer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in ihren Gemeinden, Städten und mit wenigen Ausnahmen in den Landkreisen ein. An diesen demokratischen Fortschritten hat der 1988 gegründete Verein Mehr Demokratie seinen Anteil. Er initiierte und organisierte den im Jahr 1995 erfolgreichen Volksentscheid zur Einführung des kommunalen Bürgerbegehrens und -entscheids in Bayern und schuf damit eine Regelung, die auch nach einzelnen vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof verlangten Korrekturen die bis dahin anwendungsfreundlichste war. Einen zweiten großen Erfolg errang eine von Mehr Demokratie ausgegangene Volksentscheids-Initiative zur Einführung des Bürgerentscheids für die Stadtbezirksebene in Hamburg im Jahr 1998. Verbesserungen der gesetzlichen Regeln erreichte Mehr Demokratie in mehreren Bundesländern. Eines der spektakulärsten Beispiele für einen Bürgerentscheid ist die Abstimmung über die dritte Start- und Landebahn des Flughafens in München. Im Bürgerentscheid entschieden fast 54 Prozent der Münchnerinnen und Münchner, dass die Stadt als Miteigentümerin des Flughafens auf die Verhinderung des Baus hinwirken soll. Mindestens so spektakulär war der Tunnelentscheid 1995/ 1996. Es ging um 1,5 Milliarden Euro und an der Umsetzung wird heute noch gebaut.
Die Dynamik in der lokalen Direktdemokratie zeigt sich darin, dass im Berichtszeitraum von Anfang 2008 bis Ende 2011 die Zahl der Bürgerbegehren von 3.721 auf 5.027 (plus 35 Prozent) angestiegen ist, die Zahl der daraus hervorgegangenen Bürgerentscheide von 1.360 auf 1.868. Die Zahl der Ratsreferenden, der zweiten Art von Bürgerentscheiden, nahm von 711 auf 810 zu. Die Gesamtzahl der Bürgerentscheide beträgt somit 2.806. Den größten Anteil an allen Verfahren trug wiederum Bayern mit knapp 40 Prozent bei.
Der Bürgerbegehrensbericht: Bürgerbegehrensbericht_2012.pdf